Klebstoffe: Federn ersetzen Petroleum
Klebstoffe sind fast überall zu finden: in Sportschuhen, Smartphones, Bodenbelägen, Möbeln, Textilien oder Verpackungen. Selbst Autoscheiben werden mit Klebstoffen verklebt. Fachleute kennen mehr als 1.000 verschiedene Arten von Klebstoffen. Mit ihnen lassen sich fast alle erdenklichen Materialien miteinander verkleben. Klebstoffe haben ein sehr geringes Gewicht und eignen sich daher für den Leichtbau. Mit Klebstoff geklebte Oberflächen verziehen sich nicht, da die Belastung im Gegensatz zu Schraubverbindungen gleichmäßig verteilt wird. Klebstoffe rosten nicht und schließen Feuchtigkeit aus. Geklebte Oberflächen sind auch weniger anfällig für Vibrationen. Außerdem sind Klebstoffe preiswert und relativ leicht zu verarbeiten.
Federn aus der Geflügelfleischproduktion
Traditionell wurden Klebstoffe fast immer aus fossilen Rohstoffen wie Erdöl hergestellt. Einen anderen Weg geht seit kurzem das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB. Anstelle von Erdöl verwenden die Forscher:innen dort Federn als Grundstoff. Federn sind ein Nebenprodukt der Geflügelfleischproduktion. Sie werden vernichtet oder dem Tierfutter beigemischt. Doch Federn sind viel zu wertvoll, um sie zu verschwenden, denn sie enthalten das Strukturprotein Keratin. Dieses Biopolymer kommt bei Tieren vor und bildet die Krallen, Klauen, Hufe oder Federn. Seine faserige Struktur ist extrem stark.
Warum Keratin perfekt für die Herstellung von Klebstoffen ist
Keratin ist ein biologisch abbaubares und damit umweltfreundliches Material, dessen Struktur spezifische Eigenschaften aufweist, die es für die Herstellung von Klebstoffen besonders geeignet machen. Die polymere Struktur von Keratin, d. h. seine sehr langkettigen Moleküle, sowie seine Fähigkeit, Vernetzungsreaktionen einzugehen, prädestinieren es für die Herstellung verschiedener Klebstoffe. „Die für Klebstoffe benötigten Eigenschaften sind zum Teil bereits im Grundmaterial vorhanden und müssen nur noch freigeschaltet, modifiziert und aktiviert werden“, erklärt Projektleiter Dr. Michael Richter.
Plattform Chemie- und Spezialklebstoffe
In den vergangenen drei Jahren hat das Fraunhofer IGB gemeinsam mit der Henkel AG & Co. KGaA an dem Projekt KERAbond: „Spezialchemikalien aus maßgeschneiderten funktionellen Keratinproteinen“ – Kera ist die Abkürzung für Keratin, kombiniert mit dem englischen Wort Bond.
Die Projektpartner haben kürzlich ein neues Verfahren entwickelt und verfeinert. In der ersten Stufe werden die vom Schlachthof angelieferten Federn sterilisiert, gewaschen und mechanisch zerkleinert. Anschließend spaltet ein Enzymverfahren die langkettigen Biopolymere oder Proteinketten durch Hydrolyse in kurzkettige Polymere.
Das Ausgangsprodukt ist eine Plattformchemikalie, die als Grundstoff für die weitere Entwicklung von speziell formulierten Klebstoffen dienen kann. „Wir nutzen den Prozess und die Plattformchemikalie als „Werkzeugkasten“, um biologisch verstärkte Eigenschaften in das Endprodukt zu integrieren“, sagt Richter. Das bedeutet, dass für den angestrebten Spezialklebstoff Parameter wie Aushärtezeit, Elastizität, thermische Eigenschaften oder Festigkeit festgelegt werden können. Außerdem lassen sich nicht nur Klebstoffe, sondern auch verwandte Stoffe wie Härter, Beschichtungen oder Primer leicht herstellen.
Im nächsten Schritt machte sich das Fraunhofer-Team daran, die Federn in großem Maßstab zu verarbeiten. Das Fraunhofer-Zentrum für Chemisch-Biotechnologische Prozesse CBP in Leuna übernahm das Rüsten des Prozesses. Ziel war es, zu beweisen, dass die keratinbasierten Plattformchemikalien auch im industriellen Maßstab kostengünstig hergestellt werden können. Dazu wurden mehrere Kilogramm Hühnerfedern verarbeitet und das gewonnene Material für vielversprechende erste Materialversuche am Fraunhofer IGB und bei Henkel eingesetzt.
Grundlagen für eine bioinspirierte Wirtschaft
Dieses bioinspirierte Verfahren ist für die Fraunhofer-Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Nicht nur, weil es sich um biologisch abbaubare Rohstoffe oder besonders effiziente Herstellungsverfahren handelt. Vielmehr ist die Biotechnologie eines der Hauptforschungsfelder der Fraunhofer-Gesellschaft. Richter erläutert das zugrunde liegende Konzept: „Wir lassen uns von Funktionen oder Eigenschaften inspirieren, die in der Natur oder in natürlichen Rohstoffen bereits vorhanden sind. Und wir versuchen, diese Eigenschaften durch innovative Herstellungsverfahren in Produkte zu übersetzen. So entsteht ein bioinspirierter Kreislauf für wertvolle Rohstoffe.“
Das Fraunhofer IGB ist seit einigen Jahren in allen Bereichen der Bioökonomie aktiv und hat beispielsweise bei Keratin eine exklusive Expertise entwickelt. Deshalb ist das Chemieunternehmen Henkel für dieses Projekt an das Fraunhofer IGB herangetreten. Das Projekt hat ein gewisses wirtschaftliches Gewicht. Laut Statista wurden allein in Deutschland im Jahr 2019 rund eine Million Tonnen Klebstoffe hergestellt. Der Gesamtwert liegt bei rund 1,87 Milliarden Euro.
Und auch der wissenschaftliche Output kann sich sehen lassen: Für das neue Verfahren wurde ein Patent angemeldet und ein Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht. Zwei Doktoranden, die an dem Projekt bei Henkel und Fraunhofer intensiv geforscht haben, werden voraussichtlich im ersten Quartal 2024 ihre Dissertation abschließen. Diese neue Technologie auf Keratinbasis wird es ermöglichen, eine Vielzahl von Plattformchemikalien auf nachhaltige, bioinspirierte Weise zu produzieren.
Lesetipp: Klebstoffe und Dichtstoffe
Aus der „Sicht des Chemikers“ geschrieben, vermittelt „Formulierung von Kleb- und Dichtstoffen“ anhand von Grundlagen, Formulierungshinweise sowie Analysen bestehender Rezepte. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Zusammensetzung und Bestandteile der verschiedenen Klebstoffarten, deren chemische Strukturen und funktionellen Gruppen. Die daraus resultierenden Eigenschaften werden sowohl für die Endanwendung als auch für die Applikation der Systeme abgeleitet.