Experteninterview Rheologie Es geht immer um Kompromisse
Fangen wir ganz allgemein an. Wie würden Sie Rheologie definieren?
Thomas Mezger: Rheologie ist ein Teilgebiet der Physik, bei dem wir Materialien unter einer Belastung betrachten. Diese Belastung ist meistens eine Kraft, kann aber auch eine Geschwindigkeit oder eine vorgegebene Deformation sein. Dann kann man beobachten, dass manche Materialien wegfließen, während sich andere nur etwas deformieren und bei Entlastung ihre Form mehr oder weniger wieder zurückbilden. Im ersten Fall reden wir von Flüssigkeiten, im zweiten Fall von Festkörpern und Elastizität.
Wenn man das wissenschaftlich betrachtet, gibt es hier zwei wichtige Grundgesetze. Das eine definiert die Viskosität und das zweite ist das Elastizitätsgesetz. Klassisch hat die Physik zwei Bereiche unterschieden. Das eine ist die Hydrodynamik für Flüssigkeiten und das Zweite ist die Festkörperphysik.
Wir in der Rheologie bringen jetzt beides zusammen und beschreiben das Deformations- und Fließverhalten von allen Materialien. Das gilt für Gase, niederviskose und hochviskose Flüssigkeiten, halbfeste Materialien bis hin zu sehr festen Materialien wie verstärkte Kunststoffe oder Stahl.
Dann schlagen wir doch mal den Bogen zur Farben und Lackindustrie. Wo finden sich Farben und Lacke in dieser Betrachtungsweise?
Mezger: Farben und Lacke fangen natürlich bei niedrigviskosen Materialien an. Das sind dann z. B. Automobillacke, die ein idealviskoses oder newtonsches Fließverhalten haben können. Wenn die Lacke dann ausgehärtet sind, haben wir es mit festen Materialien zu tun, die man beispielsweise als Filme auch vermessen kann. Aber üblicherweise reden wir bei Farben und Lacken vom Verarbeitungszustand, also vom flüssigen oder halbfesten Zustand.
Welche Rolle spielen hier die Kräfte, die auf das Material wirken, die sie eingangs erwähnt hatten?
Mezger: Nehmen wir noch mal das Beispiel Automobillack. Dieser wird in einem Behälter angeliefert und muss dann für die Verarbeitung pumpbar sein. Meist finden wir eine gewisse Struktur im Lack, die verhindern soll, dass Partikel wie etwa Pigmente sedimentieren. Das kann man sich als ganz feine Gelstruktur vorstellen. Die muss ich überwinden, damit ich den Lack anpumpen kann. Wir sprechen in diesem Fall auch von der Fließgrenze, die man überwinden muss. Diese darf also nicht zu hoch sein. Zu niedrig darf sie aber auch nicht werden, sonst kann dies zum Absetzen der Partikel führen.
Danach, beim Weiterpumpen, ist der Lack im Fließzustand. Zur Ermittlung der Scherrate ist es wichtig, wie groß der Rohrleitungsdurchmesser und wie hoch die Fließgeschwindigkeit ist. Dann können wir bei diesen Bedingungen die Viskosität messen.
Von hier kommen wir dann zur eigentlichen Auftragung auf das Substrat. In unserem Beispiel wäre das die Automobilkarosserie. Da soll der Lack natürlich gut verlaufen, aber auch nicht zu stark ablaufen. Hier betrachten wir das sogenannte thixotrope Verhalten. Das heißt nichts anderes, dass wir unmittelbar nach dem Auftragen, bei dem das Material schnell fließt, einen Strukturwiederaufbau haben. Es sind also typischerweise drei Dinge, die wichtig sind: Fließgrenze, Viskosität, Thixotropie.
All diese Eigenschaften richtig einzustellen ist bei der Lackformulierung sicher nicht einfach?
Mezger: Ja, die Herausforderung ist, dass die Anforderungen sich in Teilbereichen widersprechen. Beim Verlaufen soll der Lack ja beispielsweise niederviskos sein, anderseits hat man dann schnell ein zu starkes Ablaufverhalten an der senkrechten Fläche. Deshalb muss doch ein gewisser Viskositätswert vorliegen. Es ist bei der Rheologie wie im echten Leben, es geht immer um Kompromisse. Und da steckt sehr viel Erfahrung dahinter. Das ist etwas, das Sie nicht ausschließlich aus Lehrbüchern lernen können. Und in den Vorlesungen an den Hochschulen fehlt bei diesem Thema meist der Praxisbezug.
Welche Strategien kann man nutzen, um einen möglichst guten Kompromiss herzustellen?
Mezger: Sie kommen da um einen anwendungstechnischen Test nicht herum. Rheologie ist eine große Hilfe, aber am Ende kommt immer der Praxistest unter verschiedenen Bedingungen. Es ist eben ein Unterschied, ob ich den Lack in Sizilien oder in Island im Freien applizieren will. Die Temperatur spielt zum Beispiel eine entscheidende Rolle.
Man muss dann mit dem Lacklabor Rücksprache halten und anfangen, mit den Additiven zu „spielen“. Sie haben ja eine große Anzahl an Komponenten im Lack und haben daher ein sehr komplexes Zusammenspiel, das die Rheologie beeinflusst.
Sie haben gerade Umweltbedingungen wie die Temperatur erwähnt. Hier macht es sicherlich auch einen großen Unterschied, ob ich einen Lack auf Wasser- oder Lösemittelbasis habe?
Mezger: Ja, genau. Lösemittellacke sind in der Regel einfacher zu handhaben, da dort wesentlich weniger Komponenten enthalten sind. Der Wasserbasislack braucht zum Beispiel oft Additive, damit er auch mikrobiologisch stabil bleibt. Dazu kommt eine andere Art von Wechselwirkungen, nämlich das Vorliegen von hydrophilen und hydrophoben Gruppen. Und jede weitere Komponente kann, gewollt oder nicht, über den pH-Wert oder durch ungewollt eingetragene Tenside, dieses Netzwerk beeinflussen.
Wasserlacke werden ja vor allem aus Umweltschutzgründen eingesetzt, um die Emission flüchtiger Lösemittel in die Umwelt zu reduzieren. Selbiges gilt für Pulverlacke. Wie verhält sich hier die Rheologie?
Mezger: Hier ist das rheologische Verhalten ganz anders, denn da haben wir zuerst mal keine Flüssigkeit vor uns. Es gibt hier zwei Möglichkeiten. Man kann Luft in das Pulver einblasen und es so fluidisieren, oder man kann das Pulver komprimieren. Für beide Probenarten gibt es spezielle Messmethoden.
Wenn man das Pulver beim Lackieren schließlich aufschmilzt, kommen wir wieder in den flüssigen Bereich. Hier interessiert uns natürlich, bei welcher Temperatur wird es flüssig? Bei welcher Temperatur hat es die niedrigste Viskosität? Gleichzeitig muss man beachten, dass vielleicht auch schon eine Vernetzungsreaktion anläuft. Die Viskosität darf auch hier nicht zu niedrig werden, sonst kann es etwa zu Kantenflucht kommen, also etwa an einer Tischkante oder Ähnlichem. Diese Hochtemperaturmessungen kann man entweder bei einer konstanten Temperatur oder bei steigenden Temperaturen durchführen.
Sie haben jetzt mehrfach über Messungen gesprochen. Welche Testmethoden sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten?
Mezger: Fangen wir historisch an. Ab Mitte der 1980er Jahren hat sich die Messtechnik ganz neu aufgestellt, als die Personal Computer aufkamen. Vorher gab es im Grunde nur die einfachen Rotationsviskosimeter. Da hat man mit einer Spindel in einem Becher gearbeitet eine Drehzahl vorgegeben und das resultierende Drehmoment gemessen, und daraus die Viskosität berechnet. Das ist in der einfachen Qualitätskontrolle heute noch so. Viele ASTM-, ISO- und DIN-Standards beschreiben diese Art von Rotationsmessungen.
Dann hat man irgendwann gemerkt, dass solche einfachen Viskositätsmessungen heutigen Anforderungen nicht mehr genügen. Wie ich vorhin schon mal angemerkt habe, wenn man einen Lack aus einem Behälter anpumpen möchte, fließt der oft nicht sofort, da ja zuerst die Fließgrenze zu überwinden ist. Hier reicht die Viskosität als Größe nicht aus, da sie nur eine fließende Substanz beschreiben kann. So wurden dann immer mehr die Oszillationsversuche populär, da wir damit die gesamten viskoelastischen Eigenschaften beschreiben können. Mit diesen Tests können wir dann sehen, welche Komponente überwiegt, die elastische oder die viskose.
Das kann man sich anhand zweier Beispiele aus dem Badezimmer gut vorstellen. Eine Handcreme ist zum Beispiel eher fest, kann aber leicht zum Fließen gebracht werden. Hier handelt es sich also um einen viskoelastischen Festkörper. Diesen kann ich mit einem einfachen Viskosimeter und durch einen Rotationstest nicht vollständig charakterisieren, denn bei der Messung wäre die Grundstruktur bereits beim ersten Messpunkt zerstört und damit beispielsweise die Fließgrenze schon überschritten.
Das andere Beispiel aus dem Badezimmer ist das Shampoo, das im Grundzustand zwar flüssig ist, aber auch eine elastische Komponente hat und bei schnellen Bewegungen möglicherweise Fäden zieht. Das kennen wir auch bei Farben, Lacken oder Klebstoffen. Hier handelt es sich also um viskoelastische Flüssigkeiten.
Der Oszillationstest ist vor allem interessant, wenn wir mehr wissen wollen als für die einfache Qualitätskontrolle; beispielsweise in der Forschung und Entwicklung oder auch für Experten in der Anwendung. Manchmal werden drei oder auch mehr Messabschnitte hintereinander kombiniert in Rotation und Oszillation ausgeführt, als sogenannte Sprungversuche zur Ermittlung des thixotropen Verhaltens.
Was heute bei Messungen interessiert, sind vor allem die Werte von G‘ und G‘‘. G‘ ist der elastische Schubmodul oder auch Speichermodul, der für den elastischen Anteil des viskoelastischen Verhaltens steht. G‘‘ steht für den viskosen Schubmodul oder Verlustmodul. Beide Werte werden beim Oszillationsversuch direkt als Kurvenfunktionen dargestellt.
Und welche Rolle spielen Relaxations- und Kriechtests heutzutage?
Mezger: Beides sind Versuche, die ein modernes Rheometer durchführen kann. Die Versuche hat man früher häufiger gemacht als heute. Einen Kriechtest kann man sich so vorstellen: Es wird auf eine Messprobe eine Last auflegt und dann beobachtet, wie sie wegkriecht; das heißt, wie die Deformation sich über die Zeit darstellt. Da erhält man dann typischerweise eine gekrümmte Kurve in Form einer e-Funktion. Wenn man die Last dann wegnimmt, kann man dann beobachten, ob und wie weit die Deformation wieder zurückgeht, also wie elastisch die Probe ist.
Der Kriechversuch hat den Nachteil, dass man je einzelnen Test immer nur bei einer Belastungsstufe ausführen kann. Das heißt, dass es mehrere Versuche braucht, um ein Material zu beschreiben, und ein einzelner guter Kriechversuch dauert um die zehn Minuten. Ein Oszillationsversuch ist da viel schneller, denn er liefert ein aussagekräftiges Gesamtergebnis schon in 10 oder 15 Minuten. Daher wird der Kriechversuch eigentlich nur noch in der Grundlagenforschung benutzt.
Ähnlich sieht es beim Relaxationsversuch aus. Der läuft so ab, dass man ein Material schlagartig deformiert und dann ruhen lässt. Anschließend schaut man, wie sich die innere Struktur in Form der Schubspannung (Stress) erholt, also relaxiert. Hier zeigt die Messkurve meist die Form einer e-Funktion. Auch hier wird jeweils nur bei einer Belastung gemessen und man bräuchte viele Messungen, um eine Messprobe im Detail zu beschreiben.
Gibt es eigentlich typische Messfehler, auf die Sie immer wieder angesprochen werden?
Mezger: Es ist klar, dass ein Rheometer mehr Bedienungsmöglichkeiten aufweist als etwa ein Thermometer. Ich muss wissen, was ich erreichen will, bevor ich das Messprogramm erstelle. Will ich das thixotrope Verhalten oder das Anpumpverhalten erkunden oder simulieren? Will ich eine Beschichtung händisch oder mit Maschinenunterstützung auftragen? Das ist möglicherweise schon eine Fehlerquelle, da ich bei unpassenden Vorgaben auch nichts Praxisrelevantes messen kann.
Dafür sind wir dann da, das ist unser tägliches Geschäft. Wir helfen hier im Support unseren Kunden dabei, die richtigen Messungen durchzuführen. Vieles haben wir als Vorlagen auch schon in der Software hinterlegt.
Man sollte aber auch pragmatisch bleiben. Wenn ich zum Beispiel einen Lösemittellack in einer Platte-Platte-Messgeometrie teste, habe ich am Rand Kontakt zur Luft, so dass der Lack antrocknen kann, was die Messung natürlich stark beeinflusst. Auch die Messtemperatur spielt eine große Rolle. Wenn ich zu lange bei einer sehr hohen Scherbelastung messe, dann erzeuge ich in der Messprobe durch innere Reibung zwischen den Molekülen zusätzlich Wärme. Mit etwas Erfahrung erkennt man solche Fehler aber normalerweise, z. B. am Verlauf der Messkurve.
Sie haben viel von diesem Fachwissen auch in Ihrem Rheologiehandbuch niedergeschrieben. Wie ist es dazu gekommen?
Mezger: Das geht relativ weit zurück. Rheologie hatte bei mir anfänglich einen schlechten Ruf, da die Vorlesungen an der Uni sehr trocken und ausschließlich theoriebezogen waren. Ich habe dann schon in den 1980-er-Jahren im Berufsleben angefangen, typische Fragen und Problemlösungen aus der täglichen Praxis aufzuschreiben und als Beispiele mit Hilfe von Messkurven dazuzustellen. Daraus ist damals das Heft „Ein kleiner Rheologiekurs“ auf gut 100 Schreibmaschinenblättern entstanden. Das war die in mehrjähriger Praxis erprobte Grundlage für die 1. Auflage mit dem Titel „Das Rheologie-Handbuch“, veröffentlicht im Jahr 2000.
Gerade ist die fünfte Auflage der englischen Version erschienen, was hat sich dort geändert?
Mezger: Ein Beispiel ist das neue Kapitel über „Scherversuche mit Pulvern und Schüttgütern“. Das ist nicht nur für Pulverlacke relevant, sondern spielt beispielsweise auch im Bereich der Additive eine Rolle, die ja oft als Pulver angeliefert werden. Außerdem finden sich im Buch viele neue praxisbezogene Beispiele zu typischen Fragestellungen, mit dem Ziel, das Thema Rheologie verständlich darzustellen.
Wichtig ist mir auch zu sagen, dass in dem Buch nicht nur mein Wissen enthalten ist, sondern auch das von anderen Experten wie meinen Kollegen. Wir sitzen unter anderem auch in verschiedenen Normenausschüssen (DIN, ISO, etc.), haben über unsere Kunden täglich internationalen Kontakt zu den verschiedenartigsten Anwendungsfällen in der Praxis und tauschen permanent unsere Erfahrungen in durchaus engagierten Diskussionen aus.