Die Vorteile der Verlagerung in Länder mit niedrigen Herstellkosten haben sich teilweise umgekehrt

Die Corona-Pandemie hat Teile der Branche schwer getroffen. Nicht nur, weil der Absatz zurück ging, sondern auch weil Lieferketten nach Fern-Ost, unterbrochen wurden. Im Interview mit Hendrik Hustert von Orontec sprechen wir darüber, wie die Digitalisierung hier Abhilfe schaffen könnte.

Lieferketten haben sich durch die Corona-Pandiem telweise als Unsicher herausgestellt. Digitalisierung kann hier abhilfe schaffen. (Bildquelle: j-mel - stock.adobe.com)

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Die Corona-Pandemie hat auch die Lackindustrie getroffen. Welche Auswirkungen beobachten Sie?

Hendrik Hustert: Die Lackindustrie treffen ähnliche Auswirkungen, wie die Industrie im Allgemeinen. Die Verlagerung von Produktion in Länder mit niedrigen Herstellkosten wird nun teuer, weil Rohstoffe und Produkte von dort nicht mehr in Europa ankommen. Das hat in der Lackindustrie zu einer Verknappung bei Schlüsselrohstoffen geführt.

Zum Beispiel werden viele Pigmente außerhalb von Europa produziert. Kann in einem Mischlack- oder Pastensystem eine kleine Anzahl von Komponenten nicht mehr geliefert werden, hat das direkte Auswirkungen auf sehr viele Farbtöne. Ein Mischsystem ist eine hervorragende Lösung, um eine hohe Farbtonpräsenz bei niedrigen Fertigungs- und Lieferkosten zu erreichen. Es ist jedoch nur so lange eine gute Lösung, als alle Komponenten lieferbar sind.

In Folge der Pandemie haben sich auch die Zielmärkte dramatisch verändern. Bestimmte Produkte werden mittelfristig starke Nachfrageverluste erfahren. In Großbritannien ist der Automobilmarkt vollständig zusammengebrochen. In Deutschland gibt es erhebliche Absatzverluste, auch getrieben durch die wochenlange Schließung der Autohäuser. Schon in der Finanzkrise 2009 hat sich gezeigt, dass Autobesitzer in Krisenzeiten eher gewillt sind, kleine Schäden an Fahrzeugen nicht sofort reparieren zu lassen. Es wird also auch Auswirkungen auf den Reparaturlackmarkt haben. Auch in der Möbelindustrie und bei teuren Freizeitgütern, wie z.B. Booten geht die Nachfrage zurück.

Hendrik Hustert

Hendrik Hustert ist Geschäftsführender Gesellschafter bei Orontec und ausgebildeter Chemieingenieur sowie Bankkaufmann.

Das Thema Lieferketten spielt eine große Rolle, was kann die Lackbranche tun, um hier in Zukunft besser auf Ausnahmesituationen gewappnet zu sein?

Hustert: Die Produktionsverlagerungen an Standorte in Fernost waren durch den globalen Kostendruck getrieben. Energie- und Personalkosten sowie Betriebsauflagen haben dazu geführt, dass viele Produkte nicht mehr in Europa gefertigt werden. Die sehr schnell von statten gegangene Änderung der Absatzmärkte zeigt, dass wir sehr viel schneller reagieren können müssen und flexiblere Produktions- und Liefersysteme brauchen, um in Europa effizient und produktiv sein zu können.

Es gibt im Wesentlichen zwei Lösungsansätze. Zum einen können regionale Lagerbestände angelegt oder erhöht werden, zum anderen die Produktion auch wieder in Europa durchgeführt werden. Die Anlage von Beständen ist bisher immer möglichst vermieden worden, weil sie mit hohen Kosten verbunden ist. Die Lieferketten aus Übersee haben bisher immer gut funktioniert. Das Geschehen der letzten Monate zeigt aber, dass wir diese Strategie neu bewerten sollten. Sie versagt bei Ereignissen wie einer globalen Pandemie mit längeren Werks- oder Grenzschließungen. Die Kosten regionaler Lagerbestände könnten aber optimiert werden, wenn die Verteilung durch intelligente Mechanismen bedarfsgerecht vorgenommen wird. Das ist eine Kernaufgabe der Digitalisierung. 

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Eventtipp: Im Oktober treffen sich Experten der deutschsprachigen Lackindustrie zur zweiten FARBE UND LACK Konferenz Industrie 4.0, um über die Chancen der Digitalierung der Lackindustrie zu sprechen und sie zu gestalten.

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Wir können sehr schnelle und flexible Prozesse schaffen und die Fähigkeiten und Kräfte unserer Mitarbeiter auf qualifizierte Tätigkeiten konzentrieren, anstatt sie automatisierbare Routinetätigkeiten ausführen zu lassen. So können beide langfristigen Aufgaben, Kostenreduzierungen durch Produktivitätssteigerung und der Fachkräftemangel, durch dieselben Maßnahmen angegangen werden. Technische Ressourcen können bei konjunkturellen Schwankungen einfacher und kostengünstiger angepasst werden als Personal. Wir sehen daher ein großes Potenzial in der Digitalisierung der Lacklabore und –fertigungen.

Die Produktion wieder verstärkt in Europa durchzuführen, ist aus Kostengründen häufig nicht leicht umzusetzen. Welche Strategien sehen Sie hierfür?

Hustert: Die Vorteile der Verlagerung von Produktion in Länder mit niedrigen Herstellkosten haben sich teilweise umgekehrt, weil Rohstoffe und Produkte von dort nicht mehr in Europa angekommen sind. In der Automobilindustrie hat das zu wochenlangen Werksschließungen geführt. Lacke werden dann auch nicht benötigt.

Eine Folge der Ereignisse wird sein, dass wir robustere Lieferketten entwickeln. Die Strategie könnte sein, statt Fertigprodukte mehr Rohstoffe und Halbfabrikate zu bevorraten. Die Produktionsprozesse des Endproduktes müssen dann aber sehr viel schneller sein, um Kundenbedarfe mit gleicher hoher Qualität und Lieferbereitschaft zu bedienen. Hersteller mit schnellen Produktionssystemen und präziseren Prüfmethoden, wie zum Beispiel die Flüssiglackfarbmessung, sind dann im Vorteil. Kurze Durchlaufzeiten sind der Schlüssel zu einer flexiblen und produktiven Fertigung.

Wir können schon heute nachweisen, dass die Flüssiglackfarbmessung bessere und schnellere Ergebnisse in den internen Prüfungen liefert und viel weniger Arbeitszeit für die Qualitätseinstellung benötigt wird. Im Bereich der Pasten und Mischlackfertigung, aber auch für Endprodukte, werden bessere Ergebnisse mit weniger Aufwand erzielt. So können Zeiten für die einzelnen Prüfprozesse um bis zu 50% gesenkt werden. Wir kontrollieren den Produktionsprozess schon sehr früh, so dass insgesamt weniger Korrekturzyklen anfallen. Die Durchlaufzeit für das Endprodukt kann über den gesamten Produktionsprozess um mehr als 80 % reduziert werden. In einem realen Beispiel wurde die Durchlaufzeit für unifarbene Industrielacke von 4 bis 5 Tagen auf 6 bis 9 Stunden reduziert. Gleichzeitig wurden die Bestände des in Arbeit befindlichen Materials um durchschnittlich 85 % gesenkt, die Termintreue auf 100 % angehoben und das Produktionsvolumen um 70 % erhöht.

Ich denke, die Corona-Pandemie führt uns in vielen Bereichen unsere Schwachstellen mehr als deutlich vor Augen. Sie zeigt aber auch Lösungswege, um in Zukunft effizienter, effektiver und produktiver zu werden und damit den Standort Deutschland mittelfristig zu stärken. Ein Nebeneffekt ist, dass sich sogar Skeptiker der Digitalisierung mit den Methoden auseinandersetzen müssen und wir dadurch die Vorbehalte reduzieren. Die Digitalisierung wird einen wesentlichen Anteil haben, den Standort Deutschland attraktiv zu halten.

Haben Sie konkrete Beispiele, wie Automatisierung und Digitalisierung dabei helfen können?

Hustert: Produkte können in Europa gefertigt werden, wenn wir sie hier kostengünstig und umweltgerecht fertigen können. Das bedeutet in Ländern mit hohen Arbeitskosten, dass deren Anteil gesenkt werden muss. Dazu ist es notwendig, Arbeitszeiten effizient zu nutzen, Rohstoffe effektiver einzusetzen und Ausbeuten zu erhöhen. Jeder ungeplante Korrekturzusatz führt zu Überproduktion, die die Ausbeute reduziert. Jede Reklamation hat denselben Effekt, zusätzlich zu den direkten Reklamationskosten.

In vielen Unternehmen der Lackherstellung werden zum Beispiel immer noch Methoden der Farbstärkebestimmung eingesetzt, die nicht nur langsam, sondern auch unpräzise sind. Das führt zu einer Fehlerfortpflanzung, die sich in Farbtonabweichungen bemerkbar macht, die dann korrigiert werden müssen. In unserem Beratungsansatz legen wir großen Wert darauf, dass Variationen möglichst früh erkannt und an der Quelle reduziert werden. Das ist nicht immer einfach, denn die methodischen Ansätze der Lackfertigung stammen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Ich finde immer noch häufig Firmen, die hochmoderne Produkte entwickeln, aber in der Produktion steht ein 30 Jahre alter Maschinenpark und das einzige Mittel zur Kontrolle der Dispergierung ist ein Grindometerblock.

Automatisierte, digitalisierte Lösungen, da schließe ich Entscheidungsprozesse ausdrücklich mit ein, sind ein Instrument, das in der Lack- und Beschichtungsindustrie sträflich vernachlässigt wird. Wir arbeiten schon eine ganze Weile an derartigen Lösungen. Es gibt einige Voraussetzungen, die für eine digitalisierte und damit auch dezentralisierbare Arbeitsweise notwendig sind. Produktionsprozesse und Prüfprozesse müssen valide Daten liefern und die Methoden sollten direkt Daten liefern. Im Produktionsbereich gibt es schon seit etlichen Jahren Entwicklungen. Im Laborbereich hinken wir da noch sehr stark hinterher. Wir nutzen Prüfmethoden, die bei einem hohen manuellen Einsatz zu zumindest fragwürdigen Ergebnissen führen.

Wir haben gesehen, dass es nicht reicht, nur einzelne Messysteme zu betrachten. Daher entwickeln wir unsere Software ständig weiter. Diese erlaubt es, auch Daten aus Messsystemen anderer Hersteller und dem Produktionsprozess mit zu integrieren und dadurch einen Blick auf den gesamten Prozess zu bekommen. Die Einführung ist nicht schwierig. Das System ist so konzipiert, dass die bisherigen Datensysteme weiterlaufen können. Wir extrahieren von den bestehenden Systemen Daten, die in einer Datenbank aggregiert werden und dann für umfassende Analysen zur Verfügung stehen. Das System kann in einem Teilbereich des Prozesses, zum Beispiel in der Schnittstelle QC zu Produktion gestartet werden und dann in andere Bereiche ausgeweitet werden. So vermeiden wir hohe Erstinstallationskosten und lange Vorarbeiten, die meist sehr nervtötend sind und oft dazu führen, dass bei der Einführung ein ERP-System schon wieder nicht mehr aktuell ist.

Viele Unternehmen haben in der Folge der Pandemie ihre Aktivitäten heruntergefahren. Die Pandemie ist aber nicht nur Fluch, sondern bietet auch Chancen. Es gibt eine hohe Bereitschaft digitale Kommunikation zu nutzen. Das ebnet auch den Weg in anderen Bereichen, Skeptiker mitzunehmen, um Prozesse zu digitalisieren. Dazu sind keine großen Investitionen notwendig. Das kann in kleinen Projekten angegangen werden. Die Produktivität durch den Einsatz von Flüssiglackmesstechnik zu erhöhen, führt zu Investitionen, die aber verglichen mit einer Vergrößerung der Produktionsaggregate oder im umgekehrten Fall einem Personalabbau sehr überschaubar sind.

Das Interview führte Jan Gesthuizen

Eventtipp:

Im Oktober treffen sich experten der deutschsprachigen Lackindustri zur zweiten FARBE UND LACK Konferenz Industrie 4.0 um über die Chancen und Herausforderung von Digitalen Produktions- und Laborprozessen in der Lackindustrie zu sprechen und neue Kontakte zu knüpfen.

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