Titandioxid – das Ringen geht weiter
Besonders der komplexe Eintrag in Anhang IV der CLP-Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 hat bei vielen Verwendern für Verunsicherung gesorgt: Einzustufen sind Titandioxid-Pulver und pulverförmige Gemische, die mehr als 1 % titandioxidhaltige Partikel mit einem aerodynamischen Durchmesser von höchstens 10 Mikrometer enthalten. Feste und flüssige Gemische, die Titandioxid enthalten, sind nicht einzustufen, sondern müssen unter bestimmten Voraussetzungen mit Warnhinweisen versehen werden. Der aerodynamische Durchmesser ist eine Größe, die eher im Zusammenhang mit dem Arbeitsschutz vor lungengängigen Partikeln bekannt ist: Beispielsweise sind die Feinstaubkorngrößenklassen für PM10 und PM2,5 über den aerodynamischen Durchmesser definiert. Für die Bestimmung stehen verschiedene genormte Verfahren zur Auswahl.
Aerodynamischer Durchmesser? Nicht trivial
Bei vielen Titandioxid-Pulvern war nicht bekannt, welchen aerodynamischen Durchmesser die Partikel im Produkt aufweisen. Im Gegensatz zur physischen Partikelgröße, die standardmäßig von den Herstellern gemessen und kontrolliert wird, beschreibt der aerodynamische Durchmesser das Sinkverhalten der Partikel in unbewegter Luft. Es besteht kein direkter Bezug zum physischen Erscheinungsbild des Partikels.
Die Messung wird an einem Aerosol durchgeführt, in das die Pulver zunächst überführt werden müssen. Hierbei können viele Faktoren einen Einfluss beispielsweise auf die Bildung von Aggregaten oder Agglomeraten haben, was den ermittelten aerodynamischen Durchmesser beeinflussen würde. Nicht jede Messmethode ist daher für jede Probe gleich geeignet. Die CLP-Verordnung macht keine näheren Angaben, welche Methode verwendet werden soll.
Deshalb hat der europäische Verband der Titandioxidhersteller TDMA Vergleichsmessungen mit verschiedenen, kommerziell erhältlichen Titandioxid-Pulvern und verschiedenen Messmethoden durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass die Mehrheit der handelsüblichen Produkte die Einstufungskriterien nicht erfüllt. Die Partikel lagern sich zu Aggregaten und Agglomeraten, also größeren Strukturen, zusammen. Dies beeinflusst nicht ihre coloristischen Eigenschaften, führt aber dazu, dass der aerodynamische Durchmesser deutlich steigt.
Messstudien der Verbände bringen Klarheit
Die Palette der Titandioxid-Pulver am Markt ist durchaus groß, aber einigermaßen überschaubar. Wie verhält es sich jedoch für Pulvermischungen, in denen Titandioxid weiterverarbeitet wurde? Für die immense Fülle von Pigmentpräparationen und Pulverlacken? Diese gelten, soweit ein Anteil von Titandioxidpartikeln entsprechend der Einstufung enthalten ist, ebenso als vermutlich karzinogen (Kategorie 2) beim Einatmen.
Selbst wenn ein nicht-eingestuftes Titandioxid für solche Gemische eingesetzt wird, ist denkbar, dass bei der Weiterverarbeitung durch Mischen und Mahlen der aerodynamische Durchmesser des eingesetzten Titandioxid-Pulvers verändert wird und so ein pulverförmiges Gemisch entsteht, das einzustufen ist. Bei der Vielzahl der möglichen Rezepturen ist es unmöglich, bei allen die aerodynamischen Durchmesser zu bestimmen.
Die Hersteller verschiedener Pigmentmischungen im Verband der Mineralfarbenindustrie (VdMi) haben daher in einer Messserie systematisch den Einfluss verschiedener Mischverfahren und Mischpartner auf den aerodynamischen Durchmesser der Pulver untersucht. Das Ergebnis: Das Mischen hatte keinen signifikanten Einfluss auf den aerodynamischen Durchmesser. Die Gesamtmenge der Partikel, deren aerodynamischer Durchmesser kleiner als 10 Mikrometer war, lag immer mehrere Größenordnungen unter den für die Einstufung nötigen 1 %.
Auch für Pulverlacke haben die Hersteller im Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie (VdL) durch Messungen verschiedener Proben festgestellt, dass die Einstufungskriterien in der Regel nicht erfüllt werden. Dabei wurden sowohl unterschiedlich stark vermahlene Pulverlacke als auch feinkörnige, titandioxidhaltige Abfälle, die in der Produktion und bei der Verarbeitung der Pulverlacke entstehen, untersucht.
Also alles halb so wild?
Die befürchteten, gravierenden Konsequenzen blieben aus, als klar wurde, dass die Einstufung handelsübliche Titandioxid-Pulver nicht betrifft. Was in zweierlei Sinne positiv ist: Zeigt es doch, dass die Partikel nicht so leicht eingeatmet werden wie von den Gesetzgebern befürchtet und dass die auf dem Markt befindlichen Produkte nach wie vor sicher verwendet werden können. Was weiterhin bleibt, sind Verunsicherung und offene Fragen insbesondere bei Produkten für den Verbraucher. Was bleibt, ist ein riesiger Aufwand, der sowohl von Industrie- als auch von der gesetzgeberischen Seite betrieben wurde. Was bleibt, ist die Diskussion, ob von kleinen Partikeln eine besondere Gesundheitsgefahr ausgeht und wie angemessen mit dieser umgegangen werden kann.
Titandioxid war der erste Fall, bei dem ein Stoff aufgrund von unspezifischen Partikeleffekten eingestuft wurde. Doch bleibt er nicht der einzige: Es stehen bereits weitere Stoffe aus ähnlichen Gründen im Fokus des Gesetzgebers. Es ist somit zu befürchten, dass die langwierigen Diskussionen sich wiederholen werden, wenn nicht endlich ein geeigneter, einheitlicher Weg zum Umgang mit Stäuben eingeschlagen wird.
Und auch die Entscheidung zur Einstufung von Titandioxid selbst ist jetzt, ein Jahr nach dem Inkrafttreten, weiterhin umstritten. Mehrere Unternehmen, die Titandioxid herstellen oder beispielsweise in Farben verarbeiten, sind gerichtlich gegen die Einstufung vorgegangen. Als Begründung führen sie Verfahrensfehler und eine mangelnde wissenschaftliche Grundlage ins Feld. Die Klagen am Gericht der Europäischen Union laufen noch, im Mai fanden die Anhörungen statt. Das Urteil wird für Ende dieses Jahres erwartet.