Interview: „Wir erwarten ein hohes Maß an Carve-out-Aktivitäten“

Die Transaktionen nehmen wieder zu, sagt Ben Scharff, Managing Director bei Grace Matthews, einem auf Transaktionsberatung spezialisierten Unternehmen im Chemie-Bereich. Er beschreibt Wie Käufer sowie Investoren derzeit agieren und inwiefern Europa weiterhin Ziel von M&A-Aktivitäten bleibt. Interview von Damir Gagro

Ben Scharff ist Managing Director bei Grace Matthews
Ben Scharff ist Managing Director bei Grace Matthews

Wie haben sich die Fusions- und Übernahmeaktivitäten in der Farben- und Lackindustrie in letzter Zeit entwickelt?

Ben Scharff: 2021 war ein sehr starkes Jahr für Fusionen und Übernahmen in der Chemie- und Lackindustrie, das in der zweiten Jahreshälfte seinen Höhepunkt erreichte. Ab 2022 war eine Abschwächung der Fusions- und Übernahmeaktivitäten zu beobachten, die bis ins erste Quartal 2023 anhielt und in fünf aufeinander folgenden Quartalen zu einem Rückgang des Transaktionsvolumens gegenüber dem Vorjahresquartal führte. In der gesamten Chemiebranche sank das Transaktionsvolumen im Jahr 2022 gegenüber 2021 um etwa 25 % (901 gemeldete Transaktionen gegenüber 1.210). 

Die Aktivitäten in den Bereichen Farben, Lacke, Bindemittel und Polymere gingen im Vergleich zum Vorjahr um fast 35 % zurück. Wir bemerken eine Zunahme der Aktivitäten im 2. Quartal 2023 und hoffen, dass sich diese im Laufe des Jahres fortsetzt. Grace Matthews kündigte für das erste Halbjahr 2023 sieben Transaktionen im Chemiebereich an, drei davon im Bereich Farben und Lacke. Wir berieten das niederländische Unternehmen Stahl bei der Übernahme des Industrial Solutions Business von ICP, Rudd Company beim Verkauf an Gemini Coatings sowie Sherwin-Williams beim Verkauf seines Aerosolgeschäfts in den USA an Diamond Vogel.

Die geopolitischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten bleiben weltweit bestehen. Wie wird sich diese Situation auf die M&A-Aktivitäten in der Farben- und Lackindustrie auswirken?

Scharff: Diese Frage steht heute sowohl für Käufer als auch für Verkäufer auf dem Markt ganz klar im Vordergrund. Die Unternehmen hatten in letzter Zeit viel zu bewältigen: Unterbrechungen der Lieferkette, Rezessionssorgen, Inflation und steigende Zinsen, Bankensorgen, Lagerauf- und -abbau sowie geopolitische Unsicherheit und Konflikte. Während die Umsätze bei einigen der wichtigsten Akteure im in der Farben- und Lackbranche – aufgrund der Inflation und der daraus resultierenden Preiserhöhungen – gestiegen sind, haben die meisten in den letzten sechs Monaten eine Abschwächung der Nachfrage und des Absatzes erlebt.

In Verbindung mit den geopolitischen und makroökonomischen Unsicherheiten wirkt sich dies negativ auf die Bereitschaft zu Fusionen und Übernahmen aus, insbesondere bei großen, umwälzenden M&A-Transaktionen. Allerdings haben wir bei kleineren, sichereren Transaktionen (unter 30 Mio. EUR EBITDA) eine gewisse Widerstandsfähigkeit festgestellt. Bei den kleineren Transaktionen konnten sowohl strategische Unternehmen als auch Investoren effektiv konkurrieren, da Finanzierungen leichter verfügbar waren, und beide treiben weiterhin gesunde Transaktionswerte voran.

Wie beurteilen Sie die anhaltende Konsolidierung in der weltweiten Farben- und Lackindustrie – und insbesondere in Europa?

Scharff: Der Markt für Farben und Lacke hat sich in den letzten 20 Jahren weltweit stark konsolidiert. In Europa sind die Fragmentierung und die Chancen tendenziell größer als in Nordamerika. In den letzten Jahren haben sich die nordamerikanischen und asiatischen Lackhersteller stark auf Fusionen und Übernahmen in Europa konzentriert.

Europa leidet unter hoher Inflation und einer „Energiekrise“. Inwieweit werden europäische Unternehmen eher ein Ziel für Käufer/Investoren aus anderen Regionen sein?

Scharff: Wir gehen davon aus, dass sich die grenzüberschreitenden Aktivitäten nicht wesentlich ändern werden. Europa war bereits für die meisten großen Lackhersteller ein wichtiges Ziel. Käufer neigen dazu, opportunistisch zu sein und zu schauen, wo sie ihr Kapital am besten platzieren können, aber gleichzeitig denken wir, dass Käufer in nächster Zeit vorsichtiger sein werden, wenn es um europäische Vermögenswerte geht. Letztendlich werden die Käufer, die in Europa Akquisitionen tätigen wollen, größtenteils aus traditionellen geschäftlichen Gründen handeln – Ausweitung der Verkaufsgeografie, Erweiterung der Produktionsbasis, Beschleunigung der REACH-Konformität, Hinzufügen von Schlüsselprodukten, Personal usw.

Wir haben von vielen führenden US-Chemie- und Lackunternehmen gehört, dass sie stark an Übernahmen in Europa interessiert sind. Dies entspricht den Diskussionen aus der Zeit vor der Krise. Gleichzeitig beobachten wir auch ein starkes Interesse von europäischen Käufern, die ihr Kapital in anderen Regionen, z. B. in Nordamerika, einsetzen wollen. Insgesamt haben wir den Eindruck, dass grenzüberschreitende Fusionen und Übernahmen für die meisten Käufer ein strategischer Schwerpunkt bleiben und im gleichen Rhythmus wie in den letzten Jahren fortgesetzt werden.

Wie sieht Ihr Ausblick für M&A-Aktivitäten in der Farben- und Lackindustrie bis Ende 2023/Anfang 2024 aus?

Scharff: Wir sind uns der zunehmenden globalen Unruhe bewusst und wissen, dass ein weiteres größeres Ereignis die jüngste Verlangsamung mit Sicherheit verlängern könnte. Dennoch bleiben wir vorsichtig optimistisch, dass die jüngste Zunahme der Fusions- und Übernahmetätigkeit bis zum Ende des Jahres 2023 und bis ins Jahr 2024 anhält. Wir werden auf dem Markt weiterhin eine Flucht in die Qualität beobachten.

Dabei werden Unternehmen, die eine starke Leistung in Bezug auf Volumen, Umsatz und nachhaltige Margen aufweisen, bei Fusionen und Übernahmen große Aufmerksamkeit erregen. Wir werden auch weiterhin beobachten, wie Verkäufer versuchen, „normalisierte Leistungsniveaus“ zu rechtfertigen, während ihre historischen Finanzdaten die Unbeständigkeit der jüngsten Marktaktivitäten widerspiegeln. Wir gehen davon aus, dass sich die Käufer weiterhin auf kleinere, strategische Transaktionen konzentrieren werden, während sie bei größeren, umwälzenden Transaktionen extreme Vorsicht walten lassen. Schließlich erwarten wir ein hohes Maß an Carve-out-Aktivitäten, da große Unternehmen weiterhin einen Portfolio-Ansatz verfolgen, um ihr Geschäft zu verwalten und bestimmte Vermögenswerte, die nicht zu ihrer Kernstrategie passen, schneller auf den Markt zu bringen.

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