Interview: „Das Urteil ist von eminenter Bedeutung“

Das Europäisches Gericht hat die auferlegte Kennzeichnungspflicht für Titandioxid aufgehoben. Wie es zum Prozess kam und welche Auswirkungen das Urteil auf die Branche haben wird, erläutern Hans-Helmuth Schmidt, Geschäftsführer der CWS Powder Coatings, sowie Dr. Martin Kanert, Geschäftsführer des VdL, und Dr. Heike Liewald, Geschäftsführerin des VdMi.

The classification of titanium dioxide in powder form is met with a lot of criticism. Image source; Laurentiu Iordache -Fotolia.com
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden Bildquelle: Laurentiu Iordache - Fotolia.com

Der Prozess zur Einstufung von Titan­dioxid ist beendet. Wie bewerten Sie das Urteil?

Hans-Helmuth Schmidt: Ich bin natürlich überglücklich! Meine Hoffnung war durchaus vorhanden, dass mit diesem eindeutigen Sachverhalt ein Sieg vor Gericht errungen werden kann. Jedoch gab es auch manch einen, der mich vor diesem Schritt der Klage gewarnt hat. Während des Prozesstages vor dem Europäischen Gericht am 12. Mai 2022 in Luxemburg, der von morgens 9 Uhr bis zum späten Nachmittag um 17 Uhr mit kurzer Unterbrechung lief, waren mehr als 30 Anwälte und Gutachter aller Parteien zugegen und wurden in einem extrem strukturierten Verfahren vom Gericht befragt. Die portugiesische Richterin, Maria José Costeira, leitet das Verfahren mit bemerkenswerter Professionalität und Intelligenz. Dieses in vorderster Reihe mit meinem hervorragenden Anwaltsteam miterleben zu dürfen, war schon ein besonderes Erlebnis – was ich mit Sicherheit nie vergessen werde.

Für die Einstufung – auf welcher Basis diese begründet war – hatte die gesamte Branche kein Verständnis. Was hat Sie schlussendlich dazu bewegt den Klageweg zu bestreiten?

Schmidt: Für mich war es absolut notwendig und undiskutierbar, dass gegen diese Einstufung vorgegangen werden muss. Das Urteil ist absolut eindeutig und verhindert die Disqualifizierung bewährter Rohstoffe für die Chemie und Farben- und Lackindustrie.

War es herausfordernd Mitstreiter zu gewinnen?

Schmidt: Innerhalb der Farben- und Lackindustrie gab es durchaus Bedenken, und anfangs standen wir recht alleine da. Die hervorragende sachliche und juristische Vorbereitung innerhalb unseres Verbandes – auch durch den ehemaligen VdL Geschäftsführer, Dr. Martin Engelmann – führte dann aber auch dazu, dass sich die Widerstandsfront gegen die Einstufung verstärkte.

Können Sie die Auswirkung des Urteils für die Branche bitte kurz einordnen?

Dr. Martin Kanert: Zunächst ist festzuhalten: Das Urteil hat die Einstufung von Titandioxid als vermutlich „krebserzeugend beim Einatmen“ für nichtig erklärt. Das Urteil ist von eminenter Bedeutung nicht nur für die Lack- und Druckfarbenindustrie, sondern für eine Vielzahl von Branchen. Ich möchte daher zunächst unseren Mitgliedsunternehmen CWS und DAW, sowie den Streithelfern u. a. Sto und Tiger Coatings danken, dass sie den Mut hatten, den Klageweg zu beschreiten, nachdem alle vorhergehenden Diskussionen mit den europäischen Institutionen zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hatten.

Das sahen im Übrigen die Hersteller von Titandioxid genau so, die ebenfalls Klage eingereicht hatten, und dabei vom europäischen Lackverband der CEPE, dem britischen Lackverband BCF und dem US-amerikanischen Lackverband ACA unterstützt wurden.

Worüber hat das Gericht genau geurteilt?

Kanert: Zum einen stellt das europäische Gericht handfeste Fehler bei der Beurteilung der Einstufung zugrundeliegenden Studie fest, und zwar sowohl des für die wissenschaftliche Beurteilung zuständigen Ausschusses für Risikobeurteilung (RAC), als auch der europäischen Kommission, die die Bewertung des RAC offensichtlich ungeprüft übernommen hat. Das Gericht mahnt damit grundsätzlich höchste Sorgfalt bei der Beurteilung der Sachverhalte an, die eine Einstufung begründen sollen, und trägt zudem der Europäischen Kommission auf, ihrem Auftrag gerecht zu werden, und die Empfehlungen des RAC nicht einfach zu übernehmen, sondern gewissenhaft zu prüfen.

Dr. Heike Liewald: Zum zweiten stellt das Gericht fest, dass Partikeleffekte keine intrinsischen Eigenschaften eines Stoffes sind und nicht für eine Stoffeinstufung unter der CLP-Verordnung herangezogen werden dürfen. Wir als VdMi vertreten diese Position seit Jahren und freuen uns deshalb sehr, dass nun endlich bestätigt wird: Partikeleffekte gehören nicht in die CLP-Verordnung. Mit diesen sehr sorgfältigen und wissenschaftlichen Begründungen hat das Gericht sein Urteil auf zwei solide Säulen gestellt.

Ist Titandioxid mit diesem Urteil aus der „Schusslinie“ für weitere Einstufungsvorhaben?

Kanert: Ich gehe davon aus, dass die Europäische Kommission das Urteil genau analysieren wird, und im Ergebnis zu dem Schluss kommt, dass das Urteil wohl begründet ist. 

Wäre weiterhin eine Gefahr des Stoffes durch das Gericht gesehen worden, welche potenziellen Auswirkungen hätte dies auf andere Rohstoffgruppen haben können?

Liewald: Das Gericht hat festgestellt, dass die Kommission und das RAC in ihrer Bewertung schwerwiegende Fehler gemacht haben. Da diese Fehler ausschlaggebend für die Einstufung waren, wurde sie annulliert. Wir denken, dass das Urteil ein deutliches Signal ist, dass grundsätzlich ein anderer Lösungsweg für den Umgang mit partikulären Stäuben gefunden werden muss und dass dies nur sinnvoll gelingt, wenn Industrie und Behörden auf Augenhöhe, wissenschaftlich und konstruktiv daran arbeiten.

Auch wenn das Urteil für die Branche positiv ausfällt, gibt es Nachwirkungen. Labels wurden erstellt, Produkte mit der Einstufung sind bereits bei Kunden oder noch im Handel, etc. Ist dieser Umstand bereits thematisiert?

Kanert: Zunächst muss das Urteil rechtskräftig werden. Das ist dann der Fall, wenn sich weder die Kommission noch etwaige Streithelfer auf Seiten der Kommission dazu entschließen, Rechtsmittel einzulegen. Dazu hat die Kommission bis etwa Mitte Februar Zeit.

In der Tat verhält es sich so, dass mit In-Kraft-Treten der Verordnung, mit der die Einstufung von Titandioxid in die CLP-Verordnung aufgenommen wurde, die Etiketten für Gebinde für titandioxidhaltige Produkte neu gedruckt und mit den EUH-Sätzen 211 bzw. 212 versehen werden mussten. Die Kosten für diese „Umetikettierung“ gehen in die Millionen.

Wir klären derzeit die Frage, ob und ggf. wie der unseren Mitgliedsunternehmen entstandene Schaden kompensiert werden kann.

Das Urteil hat übrigens auch Auswirkungen auf etliche Regelungen in anderen Rechtsbereichen, die die Einstufungen von Stoffen für Regelungen heranziehen, etwa die Umweltzeichen oder auch das Abfallrecht. Hier müssen ebenfalls erneut Anpassungen vorgenommen werden.

Wie sieht eine Lösung aus und ist diese schnell umsetzbar?

Liewald: Zunächst müssen wir abwarten, ob das Urteil Mitte Februar rechtskräftig wird. Bis dahin gelten die aktuellen Regelungen weiter und da gilt: Pigment- und Pulvermischungen fallen nicht unter die Einstufungskriterien, wenn ein nicht-eingestuftes Titandioxid-Pulver eingesetzt wird. Das haben wir als VdMi und VdL jeweils in umfangreichen Messtudien aufgeklärt. Wie mit den noch auf den Etiketten angebrachten Gefahrenhinweisen für feste und flüssige Gemische umgegangen werden muss, muss noch geklärt werden.

Aber auch kundenseitig gibt es sicherlich viel Irritation durch die Einstufung und somit Klärungsbedarf. Welche Schritte sind hier verbandsseitig vorgesehen, um die Mitglieder zu unterstützen?        

Kanert: Wir haben während des gesamten Prozesses unsere Mitglieder ausführlich informiert. Zu den Kundenverbänden pflegen wir enge Beziehungen und unterrichten sie ebenfalls. Um die Breite der Kunden zu erreichen, erstellen wir Kundeninformationsschriften, die internetöffentlich sind und von unseren Mitgliedsunternehmen zur Unterrichtung ihrer Kunden genutzt werden können. Besonders hinweisen möchte ich auf unsere gemeinsam mit dem VdMi betriebene Plattform „Forum Titandioxid“, auf der wir viele Fragen aufgreifen und kompetent beantworten.

Ist es möglich finanzielle Kompensationen gegenüber der Europäischen Kommission geltend zu machen?

Schmidt: Unser Unternehmen CWS hat alleine zirka eine halbe Million EUR an Kosten vorgehalten. Wenn man die gesamte Gruppe der beteiligten klagenden Unternehmen nimmt, so ergibt sich mit Sicherheit ein hoher Millionenbetrag. Ich gehe davon aus, dass, wie üblich, die unterlegene Partei dann auch die gesamte Party zahlen muss – letztendlich leider dann am Ende wie immer der EU-Steuerzahler und Bürger.

Ich sehe das Verfahren aber lange noch nicht als beendet an. Die falschen Kennzeichnungen auf den Verpackungen in der Farben- und Lackbranche müssen nun schließlich wieder beseitigt werden. Dies betrifft Millionen von Verpackungen in der gesamten Industrie.

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