Verlauf und Folgen der Klassifizierung von Titandioxidpulver
Von Dr. Heike Liewald und Giuliana Beck, Verband der Mineralfarbenindustrie e.V.
Im Mai 2016 legte die französische Behörde ANSES der europäischen Chemikalienbehörde ECHA ihren Vorschlag zur Einstufung von Titandioxid als Karzinogen, Kategorie 1B, beim Einatmen vor. Das zuständige EU-Komitee zur Risikobewertung RAC erkannte zwar die Problematik beim Einatmen feiner Stäube, sah die Datenlage jedoch nicht als ausreichend an, da die Studien an Ratten mit Überladung der Lungen nicht auf den Menschen übertragbar sind. Das RAC empfahl daher im September 2017 eine Einstufung als Krebsverdachtsstoff (Karzinogen Kategorie 2).
Im November 2017 starteten damit die Regulierungsberatungen auf EU-Ebene. In den darauffolgenden Sitzungen des REACH-Regelungsausschuss der EU-Mitgliedsstaaten konnte keine qualifizierte Mehrheit für den Einstufungsvorschlag gefunden werden. Mit der Anpassung der CLP-Verordnung (EG Nr. 1272/2008) an den Lissabon-Vertrag wurde die CLP-Gesetzgebung mit der am 25. Juli 2019 veröffentlichten Verordnung (EU) 2019/1243 auf einen delegierten Rechtsakt umgestellt. Damit entscheidet nun die EU-Kommission über die Einstufung von Stoffen und nicht mehr der REACH-Regelungsausschuss.
Am 4. Oktober 2019 hat die EU-Kommission die Aufnahme von Titandioxid in Pulverform als „potentiell krebserzeugend durch Einatmen“ im Rahmen der 14. ATP der CLP-Verordnung entschieden. Europäisches Parlament und Rat haben eine 2-monatige Widerspruchsfrist, nach der die Anpassung im EU-Amtsblatt veröffentlicht und 20 Tage später in Kraft treten kann. Nach einer 18-monatigen Übergangsfrist wird die Einstufung von Titandioxidpulvern bindend sein, also voraussichtlich ab Mitte 2021.
Dieser Weg war umstritten, mehrere Mitgliedsstaaten sahen andere, geeignetere Möglichkeiten zur Handhabung der beobachteten Partikeleffekte. Deutschland warb dafür, Titandioxid über allgemeine Staubgrenzwerte im Rahmen des Arbeitsschutzes zu regeln. In der öffentlichen Konsultation gingen 489 kritische Stimmen zum Einstufungsvorschlag ein. Wichtige Handelspartner wie die USA forderten im Rahmen der WTO-Notifizierung einen anderen Lösungsansatz.
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Einstufung mit Zusatznotizen
Durch den Eintrag in Anhang VI der CLP-VO werden pulverförmiges Titandioxid mit einem aerodynamischen Partikeldurchmesser ≤ 10 μm und pulverförmige Mischungen mit einem Titandioxidgehalt von ≥ 1 % in Form von solchen Partikeln oder eingebunden in andere Partikel mit solchen Außenmaßen erfasst. Diese komplizierten Rahmenbedingungen wurden in Form von Zusatznotizen umgesetzt, um dem Rechnung zu tragen, dass die Gefahr nicht von Titandioxid ausgeht, sondern auf den Partikeleffekten der Stäube beruht. Von dieser Einstufung betroffene Pulver werden mit dem GHS-Symbol GHS08, dem Signalwort „Achtung!“ und dem Gefahrenhinweis H351 (Kann vermutlich Krebs erzeugen bei Inhalation) versehen werden müssen. Auch Pulverlacke sind von diesem Eintrag erfasst.
Darüber hinaus sind verpflichtende Warnhinweise (CLP-VO, Anhang II) für flüssige und feste Mischungen mit ≥ 1 % Titandioxid vorgesehen, auch wenn diese nicht unter die Einstufung fallen werden. Während auf flüssigen Gemischen wie z.B. Lacken und Druckfarben vor der Bildung gefährlicher Tröpfchen (EUH211) gewarnt werden muss, wenn die darin enthaltenen TiO2-Partikel ≤ 10 μm sind, wird in festen Mischungen vor gefährlichen Stäuben (EUH212) unabhängig von der Partikelgröße gewarnt.
In Anwendungen, in denen es technisch möglich ist, angerührte Gemische wie Farben, Lacke oder Slurries mit Titandioxid zu verwenden, wäre lediglich der zusätzliche Warnhinweis zur Bildung gefährlicher Tröpfchen (EUH211) anzubringen.
Partikeleffekte vs. intrinsische Toxizität
Das Vorgehen der Kommission steht dabei weiterhin in der Kritik. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Einstufung ungerechtfertigt, da die CLP-Verordnung ausschließlich stoff-spezifische (intrinsische) Eigenschaften erfassen soll.
Hohe Staubbelastungen sind nur im Arbeitsumfeld insbesondere bei der Pulver-Herstellung sowie der ersten Verarbeitungsstufe zu erwarten. Davor schützen in Deutschland bereits strenge Arbeitsplatzgrenzwerte (Gesamtstaub: 10 mg/m3, alveolengängige Fraktion: 1,25 mg/m³). Epidemiologische Studien, die über mehrere Jahrzehnte an ca. 24.000 Arbeitern an 18 Herstellungsstandorten für Titandioxid durchgeführt wurden, zeigen keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit. Statt diesen Schutz durch die Harmonisierung der Arbeitsplatzgrenzwerte in Europa auf alle Arbeiter auszudehnen, wurde ein folgenschwerer Präzedenzfall geschaffen. Folgt man der Argumentation der Kommission, so müssen auch viele weitere, unlösliche Stoffe eingestuft werden.
Weitreichende Konsequenzen
Obwohl feste und flüssige Mischungen von der Einstufung ausgenommen sind, wird es in der nachgelagerten Gesetzgebung zu weitreichenden Konsequenzen kommen. Viele Regulierungen kennen keine Unterscheidung zwischen Pulvern oder Feststoffen/Flüssigkeiten. Gravierend sind die Folgen im Abfallbereich: alle Titandioxid-haltigen Abfälle mit einem Anteil von ≥ 1 % werden als gefährlicher Abfall behandelt und somit mit entsprechend höheren Auflagen entsorgt werden müssen, auch wenn – wie im Fall von eingetrockneten Lackresten oder angestrichenen Tapeten – keine einatembaren Stäube gebildet werden. Im Bereich der Kunststoffe betrifft dies einer aktuellen Studie nach 50 % der in Deutschland anfallenden Abfälle.
Auch viele produktspezifische Regulierungen unterscheiden nicht zwischen Stoffformen. Insbesondere für verbrauchernahe Anwendungen ist daher mit einer stark sinkenden Akzeptanz zu rechnen.
Fazit
Die Kommission hat im Oktober 2019 gegen die Mehrheit der Mitgliedsstaaten Titandioxid-Pulver als Krebsverdachtsstoff eingestuft. Diese Einstufung ist wissenschaftlich nicht fundiert und führt zu keiner Verbesserung des Gesundheitsschutzes. Da Titandioxid aufgrund seiner technisch herausragenden Eigenschaften ein Rezepturbestandteil in einer Vielzahl von Farben, Lacken und Druckfarben ist, werden dadurch zahlreiche Produkte unnötigerweise mit einer zusätzlichen Kennzeichnung versehen werden. Dadurch wird der eigentliche Nutzen der Gefahrstoffkennzeichnung verwässert. Im Arbeitsschutz schützt bereits heute beim Arbeiten mit staubförmigen Stoffen der allgemeine Staubgrenzwert. Wie gravierend die Folgen für die Farb- und Lack-Industrie in der Praxis werden, hängt auch von den nachgelagerten Anwendern und deren Anforderungen ab.
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