Struktur der „Betonkrankheit“ entschlüsselt
Im Zuge der AAR entsteht ein Material, das mehr Raum einnimmt als der ursprüngliche Beton und letzteren im Laufe von Jahrzehnten langsam von innen heraus sprengt.
Atome sehr regelmäßig angeordnet
Den genauen Aufbau dieses Materials haben Forscher vom Paul Scherrer Institut PSI gemeinsam mit Kollegen des Materialforschungsinstituts Empa nun ergründet. Sie konnten zeigen, dass hier die Atome sehr regelmäßig angeordnet sind, es sich also um einen Kristall handelt. Auch den Aufbau dieses Kristalls haben sie entschlüsselt: Es ist eine sogenannte Silizium-Schichtenstruktur, die in dieser Form noch nie zuvor beobachtet wurde. Diese Erkenntnis verdanken die Forschenden Messungen an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS am PSI. Die Forschungsergebnisse wiederum könnten helfen, zukünftig langlebigeren Beton zu entwickeln.
Weltweites Problem
Die AAR ist eine chemische Reaktion, die weltweit Betonbauten unter freiem Himmel betrifft. Sie geschieht, wenn Beton Wasser beziehungsweise Feuchtigkeit ausgesetzt ist. Beispielsweise sind in der Schweiz zahlreiche Brücken und bis zu 20 Prozent der Staumauern von AAR betroffen. Bei der AAR sind die Grundzutaten des Betons selbst das Problem: Zement – der Hauptbestandteil von Beton – enthält Alkalimetalle wie Natrium und Kalium. In den Beton eindringende Feuchtigkeit – beispielsweise durch Regen – wird dadurch alkalisch.
Feuchtigkeit löst Sprengung aus
Die zweite Hauptzutat von Beton sind Sand und Kies. Diese wiederum bestehen aus mineralischen Gesteinen, beispielsweise Quarz oder Feldspat. Chemisch betrachtet handelt es sich bei diesen Mineralien um sogenannte Silikate. Mit diesen Silikaten reagiert nun das alkalische Wasser und führt zur Bildung von sogenanntem Alkali-Kalzium-Silikat-Hydrat. Dieses wiederum kann Feuchtigkeit aufnehmen. Dadurch allerdings dehnt es sich aus und sprengt mit der Zeit den Beton von innen. Dieser gesamte Prozess ist die Alkali-Aggregat-Reaktion AAR.
AAR geschieht sehr langsam
Da die AAR sehr langsam geschieht, entstehen zunächst winzige Risse, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind. Im Laufe von drei, vier Jahrzehnten wachsen die Risse jedoch auf beträchtliche Breite und bedrohen schliesslich die Dauerhaftigkeit des gesamten Beton-Bauwerks. „Die meisten Bauwerke, die heute an AAR leiden, wurden zwischen den 1960er und 1980er Jahren erbaut“, erklärt Erich Wieland, Gruppenleiter Zementsysteme am PSI. „Auf das Problem der AAR ist die Forschungsgemeinde in Europa erst in den 70er Jahren aufmerksam geworden.“
Schweizer Brücke untersucht
Auch wenn die chemischen Vorgänge der AAR schon lange bekannt sind – die physikalische Struktur des im Zuge der AAR entstehenden Alkali-Kalzium-Silikat-Hydrats hatte bisher noch niemand identifiziert. Diese Wissenslücke konnten die Forschenden nun schließen. Dafür untersuchten sie die Substanz einer 1969 erbauten Schweizer Brücke, die stark von AAR betroffen ist. Forschende der Empa hatten dieser Brücke eine Materialprobe entnommen. Ein schmales Stück davon wurde so lange heruntergeschliffen, bis eine hauchdünne Probe von nur 0,02 mm Dicke übrig blieb. Diese Probe liess sich an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS mit einem extrem schmalen Röntgenstrahl durchleuchten, der 50 Mal dünner ist als ein menschliches Haar. Mittels sogenannter Diffraktionsmessungen und einer aufwendigen Datenanalyse konnten die PSI-Forschenden schliesslich die Kristallstruktur des Materials punktgenau bestimmen.
Nie dokumentierte Struktur entdeckt
Es zeigte sich, dass das Alkali-Kalzium-Silikat-Hydrat eine bisher nie dokumentierte Silizium-Schichten-Kristallstruktur aufweist. „Normalerweise darf derjenige, der einen noch nicht katalogisierten Kristall entdeckt, diesem einen Namen geben“, erklärt Rainer Dähn, Erstautor der Studie. „Allerdings muss es sich um einen in der Natur gefundenen Kristall handeln. Daher sind wir in diesem Fall nicht zu der Ehre gekommen“, so der Forscher schmunzelnd.
Die Idee zu der aktuellen Studie hatte Mitautor Andreas Leemann, Gruppenleiter Betontechnologie an der Empa. Das Wissen über die Untersuchungsmethode per Röntgenstrahlen lieferten die Forschenden des PSI. „Es gibt prinzipiell die Möglichkeit, dem Beton organische Stoffe beizumengen, die den Spannungsaufbau reduzieren können“, erklärt Materialwissenschaftler Leemann. „Unsere neuen Ergebnisse stellen diese Überlegungen auf ein wissenschaftliches Fundament und könnten die Basis für neue Materialentwicklungen sein.“
Das Ergebnis veröffentlichten die Forscher im Fachblatt Cement and Concrete Research.