„Eine Korrelation zwischen Erdöl- und Klebstoffpreis ist immer weniger gegeben“
„Wir können die sinkenden Ölpreise nicht weiterreichen“, sagt die deutsche Klebstoffindustrie. „Da wir gar kein Mineralöl verarbeiten, sondern aufwendig produzierte Zwischenprodukte, merken wir vom Preissturz so gut wie nichts“, so die Vertreter des Industrieverbands Klebstoffe (IVK).
Die Rohölpreise sinken seit über zwei Jahren. In Dollar notiert das Barrel aktuell 35 Prozent unter dem Vorjahrespreis. Seit 2013 hat sich Rohöl um zwei Drittel verbilligt. Warum sinkt der Preis von Klebstoffen nicht in gleichem Maße?
Ansgar van Halteren: In Gesprächen mit Kundenorganisationen und seitens der Wirtschaftspresse wird uns diese Frage sehr häufig gestellt. Viele Fachleute wissen aber, dass sich der Rohölpreis nicht mehr direkt auf die Endprodukte übertragen lässt. Zum einen gibt es „Klebstofffamilien“, die rohölunabhängig sind. Ich denke da zum Beispiel an Klebstoffe auf Basis natürlicher Rohstoffe, wie Kasein- oder Stärkeklebstoffe bzw. Systeme auf Basis von Glutinen.
Klaus Kullmann: Bei den rohölabhängigen Grundstoffen ist wiederum die Anzahl der Veredelungsstufen kostenbestimmend. Für die Grundstoffe der Polyurethanklebstoffe etwa sind – vom Erdgas oder Rohöl kommend – bis zu zehn Verarbeitungsstufen erforderlich. Darüber hinaus ist die Verfügbarkeit eines Rohstoffs am Markt zu einem entscheidenden Aspekt geworden und damit elementar preisbestimmend. Die Verfügbarkeit wird von technischen Ereignissen maßgeblich beeinflusst, etwa von der zeitweisen Stilllegung einer oder mehrerer Produktionsanlagen. Das haben wir jüngst bei Vinylacetatmonomer (VAM) erlebt, das unter anderem als Rohstoff für Schmelz- und Dispersionsklebstoffe verwendet wird.
Van Halteren: Wenn es einen Anlagenausfall gibt, eine sogenannte Force Majeure, also höhere Gewalt, führt das zu einer Verknappung und in aller Regel zur Verteuerung der Rohstoffe.
Kullmann: Klebstoffhersteller kaufen kein Mineralöl ein und verkaufen auch keines. Die Kausalität, die manchmal hergestellt wird, ist in der Form nicht vorhanden. Wir sind in der Ölpreisrallye nicht auf 150 Prozent des Preises gegangen. Und auch beim jetzigen Rückgang auf 30 Dollar je Barrel kann es keinen entsprechenden Rückgang der Klebstoffpreise geben.
Dr. Bernhard Momper: Erdöl wird zunächst einmal zu Naphta gecrackt. Ab da folgen viele verschiedene Verarbeitungsstufen – von relativ einfacher Chemie bis extrem komplizierter. Für höherwertige Produkte wie Polyurethan- oder Epoxidklebstoffe geht man vom Erdöl über zehn Wertschöpfungsstufen, auf denen alles Mögliche passieren kann: Anlagenausfälle, Engpässe bei wichtigen Zwischenprodukten und damit verknüpfte Preisexplosionen… Deshalb ist eine direkte Korrelation mit dem Rohölpreis immer weniger gegeben. Mehr denn je sind die Preise von Angebot und Nachfrage bei den aus fossilen Rohstoffen gewonnenen Basischemikalien bestimmt. Rohöl ist nur eine Basis; in den USA spielt Gas und in China Kohle für die Rohstoffversorgung eine entscheidende Rolle.
Der Rohölpreis ist seit 2013 auf ein Drittel gefallen. Das spiegelt sich in keiner Weise in den Zwischenprodukten?
Momper: Ich habe hier eine Übersicht über die Preisentwicklung wichtiger Basischemikalien sowie die Rohölpreise (s. Grafik). Sehen Sie da eine Korrelation?
Nein, die ist nicht zu sehen. In früheren Jahren wurden stark steigende Rohölpreise aber durchaus mal als Grund für Preisanpassungen angeführt.
Momper: Das mag sein – vor der Jahrtausendwende. Seitdem hat sich die Dynamik erheblich verändert. Heute herrscht, was einige Basischemikalien angeht, Knappheit in Europa. Es gab und gibt ein Rohöl-Cracker-Sterben alter Anlagen in Europa, während in anderen Regionen in neue Gas-Cracker investiert wird. Die globalen Verfügbarkeiten wichtiger Basisrohstoffe wie Methanol, Ethylen, Propylen, Essigsäure, Arcylsäure und Butadien haben sich verschoben. Alte, nicht mehr profitable Anlagen in Europa wurden geschlossen. Und aus einer Vielzahl von Gründen wird in anderen Regionen, nicht nur in Asien, in die Erweiterung und in Neuanlagen investiert. Europa ist zu einem Netto-Importeur vieler Basisrohstoffe geworden. Deshalb muss heute zum Beispiel Vinylacetat in großen Mengen aus den USA und Asien importiert werden. Der europäische Bedarf kann nicht mehr allein aus europäischen Anlagen in der Region gedeckt werden. Vinylacetat ist ein wesentlicher Rohstoff für Polyvinylalkohol, Vinylacetat-Homopolymere und VAE-Dispersionen, die als Holz- und Verpackungsklebstoffe breite Verwendung finden. Und wenn dann wie im Jahr 2014 eine Force Majeure, ein Anlagenausfall, dazu kommt, bedingen die resultierenden Lieferengpässe, dass die Vinylacetatpreise durch die Decke schießen.
Kullmann: Ein ähnliches Problem hatten wir mit Ethylen, das sehr wichtig für uns ist. Der Stoff war ohnehin knapp – weil wir einen hohen Polyethylenverbrauch haben, weil es in Europa weniger Cracker gibt und weil diese mehr Propylen als Ethylen ausspucken. Dann trat im Frühjahr 2015 eine Force Majeure bei Shell auf. Weniger Ethylen – das ließ auch die Verfügbarkeit von Vinylacetat sinken. Das Gleiche bei Ethylenoxid: ebenfalls ein Anlagenausfall. Ethylenoxid wird für Emulgatoren verwendet. Ohne die können Sie plötzlich eine Reihe von Dispersionen nicht mehr herstellen. Wir haben in den letzten fünf Jahren eine ganze Reihe von Force-Majeure-Situationen in Europa erlebt.
Es gibt mehr Anlagenausfälle als früher?
Dr. Christian Terfloth: Gefühlt ja, weil insgesamt weniger Anlagen in Betrieb sind. Es sind auch nicht nur die Stilllegungen, die Engpässe verursachen. Größere Wartungsarbeiten in einer der verbliebenen Anlagen können sich ebenfalls auf die Verfügbarkeit knapper Rohstoffe auswirken.
Momper: Acrylate sind ein spannendes Beispiel. Wir brauchen sie zum Beispiel für weiche Acrylatdispersionen und Pressure Sensitive Adhesives (PSA). Sie werden aber auch in großen Mengen für die Herstellung von Bindemitteln für Farben benötigt. Wenn nun in China nicht mehr so viel gebaut wird und ein geringer Bedarf an Innen- und Außenfarben herrscht, schwimmt Asien in Acrylaten und verschifft sie nach Europa. Der Bedarf in einem ganz anderen Segment steuert also letztendlich die Preise.
Van Halteren: Oder Ethylenvinylacetat: Die Photovoltaikindustrie hat jahrelang jede Menge davon für ihre Solarpanel gebraucht und viel Geld dafür bezahlt. Darunter hat auch die Klebstoffindustrie gelitten. Ein weiteres Beispiel: Acrylsäure wird nicht nur für Klebstoffe gebraucht, sondern auch für Superabsorber. Das heißt, wir konkurrieren mit Windelherstellern um den Rohstoff!
Weshalb ist das Angebot an Basischemikalien der Klebstoffindustrie in Europa so knapp?
Momper: Die Zeit, in Europa in Großanlagen für Basischemikalien zu investieren, ist schlicht und ergreifend vorbei. Bei den Energiekosten, die wir haben, kann sich das niemand leisten. Celanese hat jüngst in den USA die Vinylacetatanlage erweitert. Neuinvestitionen für Vinylacetat und Essigsäure erfolgten vor Jahren in Asien, aber nicht hier in Europa.
Kullmann: Wir haben einen stetig wachsenden Klebstoffbedarf in Europa, aber die Anlagen für die Basischemikalien sind im Schnitt 50 Jahre alt, also veraltet. Die Erhaltungsinvestitionen sind entsprechend hoch. Dennoch lohnt es sich nicht, in eine Erneuerung zu investieren. Die Investitionsentscheidungen fallen gegen Europa. Nicht nur wegen der hohen Energiekosten, auch wegen der gesetzlichen Rahmenbedingungen haben wir einen Standortnachteil.
Wie abhängig ist die Klebstoffindustrie heute vom Rohöl?
Van Halteren: Wir produzieren 860.000 Tonnen Klebstoffe in Deutschland. Ziehe ich davon Glutinleim und andere pflanzliche Klebstoffe wie Kasein oder Dextrin ab, bleiben immer noch 760.000 Tonnen. 80 Prozent der Klebstoffe basieren tatsächlich auf petrochemisch gewonnenen Rohstoffen. Also auf Chemikalien, deren Wurzeln in fossilen Quellen stecken, die eben nicht nur Erdöl, sondern auch Kohle oder Gas sein können. Aber die Preisfindung hat letztlich nichts damit zu tun, sondern mit Effekten, die in anderen Industrien liegen.
Die Interviewpartner
Ansgar van Halteren ist Hauptgeschäftsführer des Industrieverbands Klebstoffe e.V. (IVK) in Düsseldorf.
Dr. Bernhard Momper, Application Technology Manager bei Celanese GmbH, Frankfurt, ist IVK-Vorstandsmitglied und Vorsitzender des IVK-Arbeitskreises Rohstoffe.
Klaus Kullmann ist Mitglied des Vorstands der Jowat SE, Detmold, sowie Mitglied des IVK-Vorstands.
Dr. Christian Terfloth ist Vorstandsmitglied der Jowat SE, Detmold, und gehört dem Technischen Ausschuss des IVK an.
Das Interview führte der Fachautor Rainer Dettmar.