Digitalisierung: unabwendbare Realität und Chance für die Zukunft
Das Fazit der Klausurtagung: Die Digitalisierung ist nicht nur unabwendbare Realität, sondern vor allem auch eine Chance für die Zukunft, die gepackt werden muss. Aber viele Akteure stehen sich bei der konstruktiven Bewältigung dieser anspruchsvollen Aufgabe selber im Weg. Der Staat, weil er zu übereifrig und vorauseilend reguliert und so die Entwicklung behindert, die Unternehmen, weil viele von ihnen die Tendenz haben, die Sache zu passiv anzugehen. Mehr hinhören, mehr befähigen, die eigene Saturiertheit überwinden und die Digitalisierung offenen Auges und dynamisch angehen, dabei den Menschen aber nicht außer Acht zu lassen – so lauten die Empfehlungen des FIM an Politik und Unternehmertum.
Digitalisierung verändert die Industrie nachhaltig und grundlegend
Unternehmer, Politiker und Wissenschaftler aus den deutschsprachigen Ländern haben sich im auf Schloss Elmau in Bayern zum zweiten Mal zu einem Wissens- und Gedankenaustausch getroffen. Das Diskussionsthema des diesjährigen Treffens, an dem neben Deutschland, Österreich und der Schweiz neu auch das Fürstentum Liechtenstein vertreten war, lieferte der gegenwärtige Megatrend schlechthin – die Digitalisierung. Die Digitalisierung hat die Industrie bereits heute nachhaltig und grundlegend verändert, wobei das alte Europa hierbei keineswegs zu den Schnellsten der Welt gehört. Und zweifellos ist der heutige Stand der Digitalisierung erst der Anfang einer tiefgreifenden Entwicklung, deren längerfristige Auswirkungen wir heute bestenfalls erahnen können. Der Großteil der heutigen Primarschüler wird wohl einmal einen Beruf ausüben, den es heute noch gar nicht gibt. Und wir werden in 20 Jahren Dinge als ganz normal und alltäglich empfinden, die heute noch gar nicht erfunden sind.
Die eher träge Natur des Menschen kontrastiert scharf mit der rasanten technischen Entwicklung. Dieses Spannungsfeld stellt hohe Anforderungen, ganz besonders an die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger einer Wohlstandsgesellschaft, die es sich in ihrer wohlverdienten Saturiertheit recht bequem eingerichtet hat. Der Mensch, das hat die vor kurzem mit dem Wirtschaftsnobelpreis geadelte Verhaltensökonomie gezeigt, handelt immer wieder irrational und braucht zuweilen einen Schubser, um in die Gänge zu kommen. Schubser, die übrigens immer häufiger auch digitaler Natur sind. Nichtsdestotrotz bleibt der analoge, also persönliche Gedankenaustausch ein unverzichtbarer Bestandteil menschlichen Gedeihens und intellektuellen Fortkommens. Das hat nicht zuletzt das Forum industrieller Mittelstand einmal mehr gezeigt.
Digitalisierung wird die Arbeit nicht abschaffen
Wie andere technischen Entwicklungen zuvor macht auch die Digitalisierung zuerst einmal Angst. Geht uns die Arbeit aus? Müssen wir als Folge davon ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen? Werden wir zu Untertanen der künstlichen Intelligenz? Schafft die Digitalisierung unser Wertesystem ab? Wie verändert die Ökonomie des Teilens, die „sharing economy“, unsere Gesellschaftsstrukturen? Werden uns die technologieaffinen Chinesen oder Koreaner das Wasser abgraben? Ist unsere Welt durch Cyberattacken so unsicher wie noch nie?
Diesen berechtigten Fragen ging Dr. Hans-Peter Klös, Leiter Wissenschaft am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln in seinem Eingangsreferat auf den Grund. Nein, die Digitalisierung wird die Arbeit nicht abschaffen. Im Gegenteil. Genauso wie die Industrialisierung zuvor, wird sie andere Arbeitsplätze schaffen. Sie wird gänzlich neue Arbeitsfelder und neue Arbeitsformen generieren. Mobiles Arbeiten wird zunehmen. Kurz: Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt verändern, aber nicht abschaffen. Es wird im Gegenteil eher mehr Beschäftigung geben als weniger. „Einen Unsinn wie das bedingungslose Grundeinkommen wird die Digitalisierung jedenfalls nicht rechtfertigen“, sagte Klös.
Aber ohne Anstrengungen geht es natürlich nicht. Für diese neue Arbeitswelt braucht es auch neue Kompetenzen und Qualifizierungen. Routinetätigkeiten dürften längerfristig tatsächlich wegfallen und durch Maschinen oder Programme ersetzt werden. Damit ist natürlich das Bildungssystem gefordert. Die Schulen, die Universitäten, aber auch die betriebliche Weiterbildung und die Berufslehre sind hier gefordert. Wenn bei der innerbetrieblichen Weiterbildung insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen klug investieren, werden sie ihre Funktion als „hidden champions“ der Wirtschaftsentwicklung weiter halten können. Eber eben: Von nichts kommt nichts.
Bei diesem Befund waren sich alle anwesenden Unternehmer und Politiker grundsätzlich einig. Die digitale Evolution könnte in den deutschsprachigen Ländern allerdings durchaus schneller ablaufen. So sahen einige Referenten beim E-Government erheblichen Nachholbedarf. Digitale Medizin wurde als potenzieller Problemlöser für das Gesundheitswesen mit seinen explodierenden Kosten identifiziert. Erwähnt wurde das Schweizer Modell des elektronischen Patientendossiers, das zwar vielversprechend aussieht, aber bisher nicht mit der nötigen Konsequenz durchgesetzt wird und dadurch alles zusätzlich verkompliziert und verteuert. Die Demokratie steht der konsequenten Digitalisierung vielleicht zuweilen im Weg. Dennoch sollte der Staat seine Rolle als „Enabler“, als Befähiger, sehen und nicht als Behinderer.
Digitalisierung verändert den Lebensstil
Die Digitalisierung verändert auch den Lebensstil und damit den Markt. So gibt es heute mehr Einpersonenhaushalte und mehr Bestelldienste als je zuvor, was automatisch zu einem Wachstum bei verpackten Waren führt. Gleichzeitig ist auf dem Konsummarkt eine drastische Konzentrierung zu erkennen. Den zehn größten Markenbesitzern gehören 84 % der bekannten Marken (bspw. Coca-Cola, Knorr, Frisco, usw.). All dies verändert die Anforderungen an die industriellen Zulieferer. In einer digitalisierten Welt ist man immer online und jederzeit erreichbar. Ohne eine netzorientierte Belegschaft und ohne digitale Technologien sind die Zukunftsaussichten deshalb düster.
Doch die Digitalisierung ist ein hochkomplexes Phänomen. Viele Menschen werden davon erschlagen, sind verunsichert, wissen nicht genau, um was es dabei überhaupt geht. Dies im Unternehmen aufzufangen, ist eine Herausforderung. Der Mensch sollte deshalb nicht durch die Technologie entmündigt werden, sondern trotz aller Digitalisierung weiterhin die zentrale Rolle spielen, mahnte Dr. Rainer Frei von Emil Frei GmbH & Co. KG, der von seinen Mitstreitern in einem lupenrein demokratischen und komplett analogen Abstimmungsverfahren den Preis für das beste Inputreferat erhielt.
Die Digitalisierung hat die Welt der mittelständischen Unternehmen noch lange nicht vollständig erreicht. Gemäss einer neuen Untersuchung hat ein guter Teil der österreichischen KMU die Notwendigkeit der Digitalisierung für sich selber noch nicht erkannt. Digitalisierung sollte aber keine Frage der Unternehmensgrösse sein – auch im Hinblick auf den „Kampf um Talente“ angesichts des Fachkräftemangels und die zunehmend digitalisierten Lieferketten. In einem digitalisierten Unternehmen erhält zudem der Kunde eine völlig neue Rolle. So kann er selber die Produktion steuern. Und er hilft mit, die Mitarbeiter eines Betriebes von lästigen und ineffizienten Routinearbeiten zu befreien.
Dass sich auch die Demokratie als politisches System der Digitalisierung nicht verschliessen kann, liegt auf der Hand. Wie dies sowohl technisch wie auch qualitativ erreicht werden kann, zeigte Dr. Costas Vayenas, der zu diesem Thema auch ein Buch verfasst hat. Der Ökonom Vayenas, der für das Schweizer E-Governement-Startup Procivis tätig ist, sieht in der Digitalisierung einen Ausbau der demokratischen Rechte für die Bürger und damit eine direktere politische Teilhabe. Die Zukunft hat längst begonnen. Für Herausforderung ist gesorgt.
Über das Forum industrieller Mittelstand
Das Forum industrieller Mittelstand (FIM) versteht sich als Plattform mittelständischer Industrieunternehmen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Es führt Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammen mit dem Ziel, den Anliegen der Mittelständler Gehör zu verschaffen. Das Forum wird präsidiert vom Gründer Matthias Baumberger und steht unter der Schirmherrschaft des Unternehmers Lionel Schlessinger, dem Präsidenten des Verbandes der Schweizer Lack- und Farbenindustrie. Der politische Beirat setzt sich aus Albert Rupprecht, Mitglied des deutschen Bundestages, Josef Lettenbichler, Nationalrat aus Österreich, Gerhard Pfister, Nationalrat aus der Schweiz und Ado Vogt, Stellvertretender Landtagsabgeordneter aus Liechtenstein zusammen.